Skurriles Treiben im Oeffentlichen Anzeiger von 1879

Von Lehrergehältern, einem wild gewordenen Pferd und Kaffeebohnen-Revolvern

29. Dezember 2023
Skurriles Treiben im Oeffentlichen Anzeiger von 1879

Der Öffentliche Anzeiger unterlag nicht nur optisch dem Wandel der Zeit. Auch die Inhalte und Themen sind heute andere als vor beispielsweise 150 Jahren. Repro: Robert Neuber

In den Archiven der Rhein-Zeitung in Koblenz schlummert eine Zeitreise ins Jahr 1879: die älteste Ausgabe des Öffentlichen Anzeigers. Mikrofiche-Bänder, keine alten Papiere, sondern Plastikbänder wie aus einem alten Negativfilm - technische Details, die vielleicht nicht zum Grinsen bringen, aber die Geschichte in plastischer Form konservieren.

Die Titelseite dieser historischen Ausgabe präsentiert stolz die „Topmeldung“, wie es sich für eine unabhängige lokale Presse gehört. Unter der Federführung des „Redacteurs“ Philipp Wohlleben erfahren die Kreuznacher Leser alles Wichtige zur Besetzung der siebten Lehrerstelle“ an der evangelischen Schule. Nicht nur der Postenzuwachs wird zelebriert, sondern auch ein Wettstreit der Gehälter entfacht. Die Herren Lehrer an der Protestantenschule in Kreuznach verdienen fünf Mark pro Jahr weniger als ihre katholischen Kollegen in Sobernheim - ein Detail, das damals sicher für reichlich Gesprächsstoff sorgte. Die evangelische Schule in Weinsheim setzt dem Ganzen die Krone auf: Nur 825 Mark pro Jahr für den Dorflehrer! Ein Glück, dass den Pädagogen zumindest die Mietkosten übernommen wurden - ein Privileg, das heute wohl eher in die Kategorie „Goldene Zeiten“ fällt.

Doch die wahre Perle dieser Ausgabe offenbart sich erst auf Seite zwei: Ein wild gewordenes Pferd auf dem Kornmarkt, das vor einen Schlitten gespannt war, stürmte durch die Roßstraße und riss einen Mann um, der nicht unerheblich“ am Kopf verletzt wurde. Auf der Nahebrücke donnerte das Pferd mit dem Rest des Schlittens gegen eine Kutsche, die dadurch umkippte. Aus ihr herausgeschleudert wurde eine Frau mit ihrem kleinen Sohn samt Kutscher. Die drei blieben glücklicherweise unverletzt. Das Pferd konnte erst in sicherer Entfernung gestoppt werden.

Die damalige Tageszeitung“ war allerdings keine echte Tageszeitung, sondern nur dienstags, donnerstags und samstags im Einsatz. Ein Abo schlug mit 70 Pfennigen pro Quartal zu Buche - eine Investition für vier eng bedruckte Seiten, die heutige Zeitungsenthusiasten als „Bleiwüste“ bezeichnen würden. Neben den Lehrergehältern fanden sich auf der ersten Seite auch Themen der Landespolitik. Eine Zeit, in der der Entwurf der Schiedsmannverordnungen“ und die „Dienstverhältnisse der Gerichtsschreiber“ die Schlagzeilen beherrschten. Die Nachrichten nahmen die Hälfte der Seite ein, während unten der Roman „Der Othello von Missouri“ von Emilie Heinrichs Platz fand - ein echtes Print-Multitasking.

Der folgende „Unfall“, der keiner war, führte uns nach Gießen, wo ein eifersüchtiger Mann in der Silvesternacht versuchte, sich mit einem Revolver, geladen mit Kaffeebohnen, vor dem Fenster seiner Frau zu erschießen. Die „untere Gesichtshälfte zerrissen“, blieb die suizidale Absicht aber unausgeführt. Um den krassen Einsatz nicht ganz ohne Sinn abzuschließen, wurde ein Harmonikaspieler beauftragt, die „rührende Weise“ zu spielen: „Ich habe dich geliebt, ich liebe dich noch heut“. Der verletzte Ehemann wurde in „hiesige klinische Behandlung“ überführt.

Eine weitere skurrile Geschichte erreichte uns aus dem Koblenzer „Zuchtpolizeigericht“, wo ein Haarschneider aus Überbach im Hunsrück wegen Majestätsbeleidigung und Hausfriedensbruch vor Gericht stand. 15 Monate Gefängnis für die Beleidigung der Autorität eine milde Strafe für damalige Verhältnisse.

Die Inserate auf Seite drei setzen dem Ganzen die Krone auf: Gesucht wurde ein „braver Junge“ als Lehrling für die Wohlleben'sche Buchdruckerei. Gefordert waren gute Schulkenntnisse“. Für die Lehre in einem Kurzwarengeschäft“, also dem Handel mit Nähprodukten, wurde ein anständiges Mädchen“ gewünscht. Nicht nur ein „anständiges“, sondern ein kräftiges Mädchen“ wurde „zu Kindern“ gesucht.

Und während die Deutschen im Deutschen Kaiserreich von 1871 lebten und Kanzler Otto von Bismarck die Fäden zog, hatte der Öffentliche Anzeiger alle Hände voll zu tun, um die skurrilen, amüsanten und bisweilen kuriosen Ereignisse der Zeit festzuhalten. Ein bunter Mix aus Alltag, Politik und Lokalkolorit, der auch heute noch für so manches Schmunzeln sorgt. Robert Neuber/red