Angesichts einer durchschnittlichen Abwanderung von über einer Million pro Jahr in den letzten zehn Jahren müssten jährlich mithin brutto rund 1,5 Millionen Personen einwandern. Dies stellt hohe Anforderungen an die Zuwanderungspolitik – zumal das Potenzial der bisherigen Hauptherkunftsländer in Osteuropa aus demografischen Gründen ebenfalls schrumpft. So wird die Geburtenrate im Jahr 2030 in Polen bei 1,5 Kindern pro Frau, in Rumänien bei 1,7 und in Bulgarien bei 1,6 Kindern liegen. Diese Werte sind nicht höher als in Deutschland, wo knapp 1,6 Kinder zu erwarten sind. Vergleichbares gilt für osteuropäische Länder außerhalb der EU. So wird die Geburtenrate in Russland – noch ohne potenzielle Folgen des Krieges – bei 1,6 liegen (UN, 2022). Es wird mithin erforderlich sein, bereits mittelfristig eine substanzielle Anzahl von Zuwanderern aus Drittländern zu rekrutieren.

Ergänzend zur Zuwanderung könnte trotz schrumpfender Erwerbsbevölkerung die Anzahl der Erwerbspersonen konstant gehalten werden, wenn die Erwerbsbeteiligung weiter zunimmt. Ausgehend von der in der Grafik dargestellten Projektion der Bevölkerung müsste die Erwerbsquote um weitere fünf Prozentpunkte steigen. Grundsätzlich ausgeschlossen ist das nicht, in der Vergangenheit konnten solche Zuwächse durchaus erzielt werden: Die Lücke zwischen Bevölkerungsanzahl und Anzahl der Erwerbspersonen wurde steig kleiner. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass jede weitere Steigerung schwieriger wird. Bevölkerungsgruppen mit Potenzial sind vor allem Ältere und Frauen, die gegenwärtig niedrigere Erwerbsquoten aufweisen als Männer beziehungsweise Personen im Haupterwerbsalter. Im europäischen Vergleich ist die Erwerbsquote der Frauen in Deutschland aber bereits überdurchschnittlich. Nur Schweden und die Niederlande kommen auf deutlich höhere Werte. Dagegen liegt die Quote in Frankreich fünf Prozentpunkte und in Italien sogar fast 20 Prozentpunkte niedriger. Auch bei den Älteren von 50 bis 64 Jahren liegt die Erwerbsquote in Deutschland in der europäischen Spitzengruppe. Nur Schweden schneidet hier um sieben Prozentpunkte deutlich besser ab, wohingegen Italien 14 Prozentpunkte unter der Quote in Deutschland liegt. Insgesamt müsste die Erwerbsquote auf das Niveau Schwedens steigen, um den Bevölkerungsrückgang zu kompensieren.

Eine dritte Möglichkeit der Kompensation besteht in einer Ausweitung der Arbeitszeit. In Frage kommt dabei nicht nur eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit, sondern auch eine Verringerung des Teilzeitanteils. Letzterer ist im europäischen Vergleich hoch, lediglich in den Niederlanden findet sich ein deutlich höherer Teilzeitanteil. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass zwischen Teilzeitanteil und Erwerbsbeteiligung ein Zusammenhang bestehen kann. Wenn sich bisher nicht erwerbstätige Personen dazu entscheiden, eine Beschäftigung aufzunehmen, erfolgt dies oft in Teilzeit. Bezieht man das Arbeitsvolumen auf die Bevölkerung im Erwerbsalter, so zeigt sich, dass der Grad der Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nur mittelmäßig ist. Eine hohe Erwerbsbeteiligung wird mit einer niedrigen durchschnittlichen Arbeitszeit erkauft. Bei der Arbeitszeit handelt es sich um eine individuelle Entscheidung, die anhand persönlicher Präferenzen getroffen wird. Die Politik kann allenfalls Rahmenbedingungen schaffen, mit denen die Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung attraktiv ist. Berücksichtigt werden muss dabei, dass die größer werdende Arbeitskräfteknappheit dazu führen wird, dass Arbeitnehmer in stärkerem Maße als bisher ihre Interessen durchsetzen können – darunter auch ein Interesse an einer Verkürzung der Arbeitszeit.Deutschlands Arbeitsmarkt ist nach über 15 guten Jahren an einem Höhepunkt angekommen. Ein Rückgang der Anzahl der Erwerbspersonen bis 2030 wird voraussichtlich nicht zu verhindern sein. Es erscheint unwahrscheinlich, dass es in den wenigen zur Verfügung stehenden Jahren gelingen wird, eine große Anzahl Zuwanderer aus Drittländern zu attrahieren und gleichzeitig die Erwerbsbeteiligung auf neue Rekordwerte zu steigern. Das heißt allerdings nicht, dass der Versuch, unterbleiben sollte, die Effekte abzumildern. Erforderlich ist eine Zuwanderungspolitik, die zum Beispiel monatelange Verzögerungen bei der Erteilung von Visa zur Einreise beseitigt oder die die Expertise der Zeitarbeit bei der Rekrutierung von Fachkräften nutzt, statt sie gesetzlich zu untersagen. Effektive Maßnahmen zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung sind nicht einfach zu identifizieren. Ein Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur könnte es Eltern erleichtern, einer Beschäftigung – auch in Vollzeit – nachzugehen.
Großes Potenzial hätte eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. Solche Reformen haben indes in der Regel einen langen Vorlauf und können – selbst wenn es einen dahingehenden politischen Konsens gäbe – die Lage bis 2030 mutmaßlich nicht mehr entspannen. Die Arbeitszeit ist Sache der Tarifpartner, die Politik kann hier allenfalls den Rahmen gestalten. Bisher allerdings wurden die Anreize eher in Richtung Arbeitszeitverkürzung gesetzt – hier ist ein Umsteuern erforderlich. Holger Schäfer/ IW Köln