Forschungsziel: Sturzprophylaxe

20. Dezember 2024
Forschungsziel: Sturzprophylaxe

Foto: Dragana Gordic-stock.adobe.com

Das Institut für Sportwissenschaft der Universität Koblenz in Kooperation mit dem Institut für Medizintechnik und Informationsverarbeitung Mittelrhein (MTI) trainiert erfolgreich, Stürze von Ü-60-jährigen zu vermeiden

Stürze sind ein riesiges Problem, nicht nur für die ältere Bevölkerung, auch für jüngere Personen, besonders in der Arbeitswelt. Für ältere Menschen haben Stürze jedoch eine besonders schwerwiegende Konsequenz, da die Genesung in der Regel länger dauert und im hohen Alter sogar zu einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfreiheit führen kann. Prof. Dr. Kiros Karamanidis, Geschäftsführer des MTI und Leiter der Arbeitsgruppe „Trainings- und Bewegungswissenschaft“ der Universität Koblenz, forscht an einer Stolper-Sturzprophylaxe mit Hilfe eines Laufbands.

„Wir simulieren das Stolpern auf einem Laufband in Zusammenarbeit mit dem Biomechaniklabor der Hochschule Koblenz in Remagen“, erklärt Prof. Karamanidis das Prozedere. Die Teilnehmenden werden in ein Sicherungssystem eingehangen und gehen auf einem Laufband. Das Laufband produziert mehrere unvorhersehbare Stolperereignisse. Diese sind individuell auf die Gangart und das Alter der Person eingestellt. Durch das an der Decke befestigte Haltesystem kann keiner hinfallen. Der Teilnehmende durchlebt jedoch das Beinahe-Sturzgefühl, hängt quasi in den Seilen, bevor das Sicherungssystem ihn rechtzeitig auffängt.

„Wir bringen die Leute zu einem Beinahesturz. Ungefähr die ersten drei Male würden einige von ihnen hinfallen, wenn sie nicht gesichert wären. Danach passiert dies nicht mehr“ berichtet Prof. Karamanidis. „Wir konnten nachweisen, dass durch solche Interventionen das Sturzrisiko geringer ist. Die Teilnehmenden haben gelernt, die Situation zu meistern und können das Gelernte in Alltagssituationen transferieren. Selbst nach eineinhalb Jahren ist das Sturzrisiko 80-Jähriger, die eine halbe Stunde auf dem Laufband waren, reduziert.“

DAMIT DAS „STOLPERGEDÄCHTNIS“ MÖGLICHST LANGE GUT FUNKTIONIERT, KANN JEDER IM ALLTAG DARAN ARBEITEN.
PROF. DR. KIROS KARAMANIDIS

Das laufbandbasierte Stolpertraining zeigt zudem, dass nicht der altersbedingte Abbau der Muskelkraft die Ursache für Stolperanfälligkeiten ist, sondern vielmehr eine neuromotorische Degeneration im Gehirn – als die gestörte Kommunikation uns Zusammenarbeit zwischen Gehirn und Muskulatur. „Die Verbesserung der Gangstabilität hat definitiv nichts mit Muskelkraft zu tun. Die Muskelkraft verändert sich ja nicht innerhalb von 20 Minuten auf dem Laufband. Das Gehirn hingegen lernt die Zusammenarbeit mit den Muskeln wieder zu optimieren.“

Dem motorischen Gedächtnisverlust kann also gegengesteuert werden. Durch das gezielte Stolpertraining lernt das Gehirn wieder, wie der Körper im Fall eines Falles reagieren muss. „Es ist eine Art Impfung, die auf Dauer anhält“, beschreibt Prof. Karamanidis die neuromuskuläre Optimierung. Damit das „Stolpergedächtnis“ möglichst lange gut funktioniert, kann jeder im Alltag daran arbeiten. Denn, so Prof. Karamanidis: „Wir verlernen mit Stürzen richtig umzugehen. Heute ist alles barrierefrei, was auch richtig ist. Aber viele ältere Personen versuchen im Alltag jeglicher Sturzgefährdung aus dem Weg zu gehen. Sie bevorzugen Wege, die keine Hindernisse oder Unwegsamkeiten beinhalten. Wenn es dann aber zu einer Stolperquelle kommt, wissen sie nicht mehr, wie sie reagieren sollen. Denn der Lernprozess wurde zuvor ausgeschaltet. Das ist eigentlich kontraproduktiv und erhöht das Risiko.“

Damit die breite Masse von der Laufbandprophylaxe-Therapie profitieren kann, ist die Forschungsgruppe aktuell dabei, eine Art Manschette mit integrierter Bremse zu entwickeln. Sie wird am Knie- oder Hüftgelenk befestigt. Bremsimpulse sorgen dafür, dass der Gang während des Laufbandtrainings gestört wird. „Sensoren in der Manschette messen den Kniewinkel und können ein individuelles Stolpern einstellen“, so Karamanidis. „Uns liegt viel daran, die Forschung in die Praxis zu bringen. Die Manschette kann äußerst günstig produziert werden und könnte in jeder Physiotherapiepraxis oder Klinik mit vorhandenen gesicherten Laufbändern eingesetzt werden.“ Wann diese Manschette außerhalb des Forschungslabors für jedermann nutzbar sein wird, liegt an der Industrie. „Wenn ein Industriezweig Interesse zeigt, kann das ganz schnell gehen“, sagt Prof. Karamanidis. „Wir forschen, wir produzieren nicht.“